New Work und Agilität

Die Mitglieder des DBVC Präsidiums greifen in ihrem zweiten Positionspapier das Thema New Work und Agilität auf. 

DBVC Präsidium

Zum Hintergrund der Positionspapiere des DBVC Präsidiums:

Mit den Positionspapieren werden Überlegungen und Reflexionen der Präsidiumsmitglieder zu aktuellen Themen einer breiteren Fachdiskussion zugänglich gemacht. Ziel ist es, sowohl eine fachliche und gremienübergreifende Diskussion innerhalb des Verbandes als auch einen Diskurs in der interessierten Öffentlichkeit anzuregen. Vorstand und Präsidium laden ausdrücklich zur Diskussion dieses Papiers in den Regionalgruppen und anderen Gremien ein und freuen sich über Feedback an den Vorsitzenden des Präsidiums, Eberhard Hauser.

New Work und Agilität 

April 2018

Digitale Transformation, New Work und Agilität sind zu zentralen Begriffen der Strategie- und Organisationsentwicklung geworden. Insbesondere der Einsatz von agilen Methoden, die überwiegend aus der Software-Entwicklung stammen, soll dabei helfen, steigende Komplexität und Unübersichtlichkeit in den Griff zu bekommen. Ist Agilität nun eine der vielen Managementmoden und

Hypes in Organisationen oder steckt mehr dahinter? Unsere Antwort auf diese Frage ist ein entschiedenes Sowohl-als-auch.

Einerseits sind agile Konzepte Mode geworden und drohen durch fortschreitende „Vertoolung“ ihres eigentlichen Potenzials beraubt zu werden. Wie schon so oft, wird aus einem Prinzip ein Rezept gemacht, welches dann geglättet und vereinfacht wird. Schließlich soll es - ohne genaueres Verständnis, ohne Übung, ohne Änderung innerer Einstellungen und ohne Berücksichtigung des Kontextes – raschen Erfolg bringen und kann scheinbar ganz mühelos rezipiert werden. Schnelle Schulungen in agilem Management, agilem Coaching oder agiler Projektleitung sprießen aus dem Boden. Firmen greifen verständlicherweise nach diesem neuen Strohhalm, der Beherrschbarkeit von Komplexität im Strudel der Unübersichtlichkeit suggeriert. Damit einher geht ein Bedeutungswandel, bei dem Agilität gleichgesetzt wird mit Schnelligkeit und dabei die Wichtigkeit des „Bestands“ übersehen wird. So wird der eigentliche Clou von Agilität – eine veränderte Haltung und ein anderes Prinzip - verpasst und zu scheinbarer Handhabbarkeit trivialisiert.

Andererseits steckt mehr dahinter, denn Agilität ist einer von mehreren Aspekten eines Paradigmenwechsels, der sich aus zwei Quellen speist:

  • Turbulenz und Disruption: Technologische Entwicklungen und Produkte, Erwartungen von Kunden und veränderter Wettbewerb, Innovationsdynamiken und allerlei Substitutionsprozesse, also das komplexe Phänomenenbündel, das unter den Stichworten „Turbulenz und Disruption“ vielfältig und hinreichend beschrieben ist, erfordern und ermöglichen neue Formen von Arbeitsprozessen. Es wird schwerer, Arbeit auf die vertrauten Weisen zu koordinieren und dabei längerfristige Planungen und kalkulierbare Projektabläufe aufrechtzuerhalten. Flexibilität ungeahnten Ausmaßes wird erzwungen und komplexe Verhältnisse sind mit vertrauter Hierarchie kaum mehr zu bändigen.
  • Krise zweier kultureller Fundamente: Die zweite Quelle ist grundlegender. Die beiden unsere Kultur tragenden Grundpfeiler – Wahrheit und Konsens – sind derzeit fundamental in der Krise. Weder finden sich so leicht noch Wahrheiten, die alle überzeugen, noch kann über wesentliche Fragen unkompliziert oder schnell genug Konsens hergestellt werden. So muss es nicht überraschen, dass Konzepte, die stärker die zeitliche Ebene nutzen, auf dem Vormarsch sind. Nutzt man die Zeit, dann setzt man auf „Änderbarkeit“ statt auf Wahrheit oder Konsens. Wenn alle wissen, dass etwas nicht von Dauer ist, kann man leichter ausprobieren und auch mal abwarten, ob es sich bewährt. Wir wechseln also zum „aktiven Experimentieren“ und halten die Ergebnisse unserer Mühen auf lange Zeit revidierbar. Dann braucht es Haltungen, aber auch Methoden und Tools, die derartige Änderbarkeit kultivieren und organisieren (siehe etwa eines den Prinzipen im Agile Manifesto: „Heiße Anforderungsänderungen selbst spät in der Entwicklung willkommen!“). Vorläufige Beta-Versionen, rasche Updates und Entscheidungen unter Unsicherheit werden zum Normalfall. Damit ist auch klar, dass Coaches und Organisationsberater, die von ihrer methodischen Herkunft häufig auf Einigung und Konsens fokussiert sind, auch selbst Änderungsbedarfe in ihren Konzepten und Vorgehensweisen vor sich sehen.
"Ist Agilität nun eine der vielen Managementmoden und Hypes in Organisationen oder steckt mehr dahinter?" 

Ein zukunftsweisendes Konzept von Agilität zeichnet sich demgegenüber aus unserer Sicht durch zwei Gesichtspunkte aus:

1. Agilität als Potenzial: Agilität wird als inneres Potenzial verstanden, das auf Änderungsbedarfe und Optimierung fokussiert.

Dies grenzt sich ab gegenüber Konzepten, die Agilität mit Schnelligkeit oder Flexibilität gleichsetzen. Agilität kann – als Potenzial verstanden - als eine zusätzliche oder alternative Vorgehensweise neben Konsensorientierung und dem Streben nach richtigen Lösungen verstanden werden. Wer mit (a.) Agilität auf die Welt schaut, beschäftigt sich mit der Frage: „Sollte ich die bestehenden Verhältnisse aufrechterhalten oder muss ich mich eher schnell, flexibel und lernbereit immer wieder neu orientieren? Wer sich an (b.) Konsens orientiert, fragt sich, ob verbindliche Entscheidungen bei Interessengegensätzen gemeinsam gefunden werden können. Und wer nach (c.) Richtigkeit strebt, versucht zu klären, ob es eine „wahre“ Lösung gibt, die rechtzeitig und schnell genug alle überzeugt und dauerhaften Nutzen bzw. Nutzung verspricht. So verstanden stellt agiles Vorgehen tatsächlich ein weiteres wichtiges Paradigma dar, welches durch seinen intensivierten Bezug zur Zeitdimension in der gegenwärtigen VUCA-Welt zusätzlichen Nutzen stiftet und andere, neuartige und oft auch sinnvolle Steuerungsmöglichkeiten von Komplexität ermöglicht.

Für Coaching bedeutet dies, dass Themen wie

  • Ambiguitätskompetenz - Sicherheit im Umgang mit Unsicherheit
  • Verzicht auf Überidentifikation mit eigenen Meinungen
  • Lernbereitschaft-Sich-in-Frage-stellen-Können,
  • Loslassen und Neubeginnen  

an Bedeutung gewinnen, und zwar bei Coach und Coachee - sowohl als Lernziel als auch als Vorgehensweise. Die Notwendigkeit, sich immer wieder neu an den Erfordernissen der Situation zu orientieren nimmt zu, gelegentliche Novellierungen des Erprobten reichen nicht mehr, das Provisorium wird zum Normalfall (siehe hierzu auch: DBVC Positionspapier 01- Organisationsbezogenes Coaching). Damit aber wird sich der Schwerpunkt der Beratungsleistung „Coaching“ zwangsläufig auch von äußerer Verhaltensverbesserung hin zu innerer Haltungsentwicklung verschieben.

2. Agilität als Option: Agilität wird beschreibend und nicht normierend gebraucht.

Es wird von uns als problematisch angesehen, wenn in agilen Konzepten der Eindruck vermittelt wird, als sei es grundsätzlich immer und für alle richtig agil zu sein. Agiles Handeln ist einer der Pole auf einem Kontinuum agil/beständig und damit eine Option. Wenn Agilität zur Norm wird – was in manchen Organisationen gerade zu beobachten ist: „Be agile!“ -, dann geht gerade die eigentliche Relevanz des Begriffs verloren. Eher geht es darum, zu entscheiden, wann Agilität überhaupt eine zur Situation passende Perspektive ist und wann eben auch nicht. Auch Agilität ist immer – wie jedes andere Reaktionsmuster – darauf angewiesen, regelmäßig über Rückkopplungen zu prüfen, inwieweit eine agile Antwort auf die Welt in diesem Moment überhaupt aussichtsreich und günstig ist. Das heißt aber auch, dass Agilität eine Kompetenz ist, aus der heraus die Entscheidung getroffen wird, ob man flexibel oder beständig handelt. Das Ergebnis einer agilen Haltung könnte demnach sein, sich ganz bewusst auch gegen den Einsatz von agilen Tools zu entscheiden. Agilität als Haltung beginnt also mit der Einsicht, dass agile Tools und Patentrezepte nicht ausreichend sind.

Bleibt man bei Agilität als Beschreibungsform, rücken aus unserer Sicht andere Merkmale in den Vordergrund:

  • Erhöhung der Vernetzungsdichte
  • die Notwendigkeit, das Vorläufige zu lieben
  • die Bereitschaft zum regelmäßigen Loslassen 

Für Coaches bedeutet dies im Ergebnis, Stellung zu nehmen gegen trivialisierte, rezeptförmige „agile Tools“ und konzeptionelle Vereinfachungen. Wesentlich wird sein, nach wie vor auf kluge Gesamtschau abzuheben und Kontexte unter mehreren Perspektiven zu betrachten. Genauso gilt es, als Beraterzunft selbst solche neuen Heilslehren gar nicht erst zu bedienen oder „auf der Welle zu surfen“. Der DBVC setzt sich dafür ein, Agilität als Konzept zu nutzen, um andere, neue Formen des Managements von Komplexität und Hyperdynamik sorgsam zu erforschen. Dabei sollten die Verbindungen und Differenzen zu bestehenden und bekannten Konzepten (Kultur des Lernens, Mindfulness, Achtsamkeit auf schwache Signale, „Fail early, learn quickly“, Holacracy, laterales Führen u.v.a.m) herausgearbeitet werden. Gleichzeitig gilt es, das wirklich Neue an agilen Vorgehensweisen sorgfältig zu bergen und in weitere Kontexte zu transferieren.

Verfasser des Positionspapiers "New Work und Agilität":

Eberhard Hauser (Präsidiumsvorsitzender), Matthias Blenke, Klaus Eidenschink, Dr. Wolfgang Looss (Ehrenmitglied), Almut Probst, Dr. Bernd Schmid, Dr. Walter Schwertl

Veröffentlichung:

April 2018

Entwicklung der Positionspapiere des DBVC Präsidiums:

Im Mai 2017 veröffentlichte das DBVC Präsidium das erste Positionspapier. Alle bisher erschienen Positionspapiere des DBVC Präsidiums können Sie unter folgenden Links herunterladen:

  • Positionspapier 01: "Organisationsbezüge im Coaching" (Mai 2017)
  • Positionspapier 02: "New Work und Agilität"  (April 2018)
  • Positionspapier 03: "Akademisierung von Coaching-Weiterbildungen" (März 2019)
  • Positionspapier 04: "Beleuchten, was ausgeblendet wurde" (Februar 2020)
  • Positionspapier 05: "Gesellschaftliche Verantwortung im Berufsfeld Coaching" (November 2020)

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